Das Verschwinden der Schmetterlinge

Der Hang liegt am Keilstein bei Regensburg, mitten in einem Naturschutzgebiet. Jan Christian Habel besucht diesen Ort gern mit seinen Studenten. Habel ist Schmetterlingsexperte, er hat einen Lehrstuhl für Terrestrische Ökologie an der Technischen Universität München. Mitte Juli war Habel wieder mit einer Gruppe am Hang. Es war eine traurige Expedition. „Seltene Falterarten waren nicht mehr vorhanden“, sagt er. „Wir haben nur Trivialarten gefunden.“ Aber auch von diesen eigentlichen häufig vorkommenden Schmetterlingen entdeckten Habel und die Studenten viel weniger Exemplare als sonst.

Rund 3700 Arten von Faltern oder Schmetterlingen (Lepidoptera) gibt es in Deutschland, darunter – neben der riesigen Zahl an Nachtfaltern und Kleinschmetterlingen – etwa 180 oft farbenprächtige Tagfalter. Das sind die Schmetterlinge, die einem an einem schönen Sommertag begegnen. Oder begegneten, denn leider hat der Schmetterlingsexperte Habel am Donauhang keinen schlechten Tag erwischt. Es waren nicht zufällig weniger Schmetterlinge da. Das zeigt eine Studie, die der Forscher gemeinsam mit Kollegen soeben veröffentlicht hat.

Die Forscher haben untersucht, wie sich die Schmetterlingsbestände in der Gegend um den Keilstein entwickelt haben, und zwar in den letzten 200 Jahren. Flatterten in den 1840er-Jahren noch 117 Arten von Tagfaltern und Widderchen, das sind tagaktive Kleinschmetterlinge, am Keilberg, so waren es um 2010 nur noch 71. Die Artenvielfalt ist um 40 Prozent gesunken.

„Nur solche Langzeitbeobachtungen können das ganze Ausmaß der Katastrophe zeigen“, sagt Habel. Gerade Arten, die auf bestimmte Lebensräume und Nahrungsquellen spezialisiert sind, verschwinden, etwa Perlmutterfalter, diverse Scheckenfalter und Bläulinge. Generalisten wie das Große Ochsenauge (Maniola jurtina), der Schachbrettfalter (Melanargia galathea) oder der Kleine Heufalter (Coenonympha pamphilus) können Veränderungen ihrer Umwelt besser verkraften.

Nicht nur um Regensburg findet man weniger Schmetterlinge. Die Befunde der Studie könne man auf ganz Deutschland übertragen, sagt Andreas Segerer von der Zoologischen Staatssammlung München. Segerer hat an der aktuellen Studie mitgearbeitet und vor Kurzem einen Schmetterlingskatalog für Bayern veröffentlicht.

In Bayern wurden demnach seit dem Jahr 1766 etwa 3250 Schmetterlingsarten nachgewiesen. Mehr als 400 Arten sind inzwischen nicht mehr zu finden. Die Forscher haben auch eine Zeitleiste des Artensterbens erstellt. Bis zum Jahr 1900 verschwanden 53 Arten, zwischen 1900 und 1970 waren es 138, zwischen 1971 und dem Jahr 2000 dann 226 Arten.

Einen ähnlichen Rückgang beobachte man bundesweit, sagt Thomas Schmitt vom Senckenberg Deutschen Entomologischen Institut (SDEI) in Müncheberg bei Berlin.

Das Verschwinden der Schmetterlinge ist ein Indikator dafür, wie schnell sich die Umwelt verändert, denn Schmetterlinge sind sehr empfindlich. „Sie reagieren besonders sensibel auf Veränderungen ihrer Umwelt, viele Arten brauchen zwei Lebensräume, je nach Entwicklungsstadium“, sagt Jan Christian Habel, der Experte aus München.

„Luftstickstoff und Pestizide machen an den Grenzen der Schutzgebiete nicht halt. Für einen effektiven Schutz müsste man schon eine Käseglocke drüberstülpen“, sagt Jan Christian Habel. Die Schmetterlinge können leider auch nicht so leicht vor den Bedrohungen fliehen, denn die intakten Lebensräume liegen nur noch wie kleine Inseln in den landwirtschaftlich intensiv genutzten Flächen.

Quelle: Welt, 01.08.2016
https://www.welt.de/wissenschaft/article157418070/Deshalb-sehen-wir-nur…